Neujahrsempfang in Niedergirmes
Ermutigung und klare Worte von Andreas Lipsch zum Neuen Jahr

Auf welche Töne hören wir?

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwester und Brüder,

ich danke Ihnen recht herzlich für die Einladung zu diesem Neujahrsempfang und möchte Sie zuerst auch vom eigentlich Eingeladenen, dem Vorstandsvorsitzenden des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau, Wolfgang Gern, herzlich grüßen. Gerne wäre er selbst gekommen, eine Überfülle an Terminen ließ dies aber leider nicht zu. Er bat mich, seine Glück- und Segenswünsche für Sie, diese Gemeinde und Ihre Vorhaben im neuen Jahr zu überbringen.

Als er mich fragte, ob ich ihn heute und hier vertreten könne, sagte ich sofort zu, weil auch ich sehr gerne hierher nach Niedergirmes komme, in diese wirklich besondere Gemeinde, von deren Arbeit und Projekten ich oft anderen berichte und erzähle. Wann immer es um die Frage geht, welche Aufgabe die Evangelische Kirche in der Einwanderungsgesellschaft hat, kommen Sie hier irgendwann ins Spiel. Wo immer darüber diskutiert wird, wie Kirchengemeinden die frohe Botschaft von Versöhnung und Heilung in einer Gesellschaft hörbar und erfahrbar machen können, die nicht nur von kulturellen und religiösen Unterschieden sondern zunehmend auch durch soziale Ungleichheit geprägt ist, fallen mir irgendwann die guten Beispiele aus Niedergirmes ein: die Wetzlarer Tafel, die anders ist als andere Tafeln, die „Freibad-Streetworker“, die Streit zu schlichten versuchen, das gemeinsame interkulturelle Lernen, Ihr Einsatz für Flüchtlinge, das Kochteam „Gesegnete Mahlzeit“, das Teilen mit den fernen Nächsten in Burkina Faso und Kisongo, und nicht zuletzt Ihr Selbstverständnis als Herberge für ALLE Menschen im Stadtteil.

Das alles ist ermutigend – für mich und für viele andere. Und deswegen habe ich beim Lesen der Einladung zu Ihrem Neujahrsempfang erstmal gestutzt. „Andreas Lipsch wird uns Mut machende und wegweisende Gedanken nahe bringen“? Du liebe Zeit, hab ich gedacht, es ist doch genau umgekehrt. Ich fahre doch dahin – und bin immer wieder hierher gekommen, um mich ermutigen zu lassen. Um Mut zu schöpfen. „Auf welche Töne hören wir?“ Nun, ich höre gern auf Sie und von Ihnen und euch. Weil hier in Niedergirmes andere Töne laut werden als anderswo, neue Töne, leisere, eindringliche, Zwischentöne auch. Gerade das ermutigt mich inmitten all der lauten Töne, die das Thema Integration oft begleiten.

Wenn es um das Zusammenleben der Verschiedenen geht, werden die Stimmen sehr schnell sehr schrill. Auf fast keinem anderen Debattenfeld gibt es so viele Warner, Angstmacher und Unheilspropheten. Gerade in der letzten Zeit haben sie sich wieder verstärkt zu Wort gemeldet, und es ist leider nicht unwahrscheinlich, dass sie uns auch in diesem neuen Jahr weiterhin behelligen und beschallen werden. Es sind schon lange nicht mehr nur die berühmt-berüchtigten Stimmen am Stammtisch, die laut und selbstgerecht das „Ende der Toleranz“ verkünden. Im Visier sind dabei in aller Regel die Muslime und der Islam. Längst sind es auch Intellektuelle, Politiker und renommierte Journalisten, die im Namen „westlicher Werte“ allen Ernstes zur Konfrontation mit den hier lebenden Muslimen aufrufen. „Unsere heiligen Krieger“ nennt sie der Feuilleton-Chef der FAZ, Claudius Seidl. Sie rüsten rhetorisch auf, empfehlen einfache Lösungen für komplexe Probleme, verstehen Gute und Böse schon im dritten Satz zu scheiden.

Das geht schon eine ganze Weile so. Insofern kam das Ergebnis der Schweizer Minarett-Abstimmung nicht so unerwartet, wie nachher oft behauptet wurde. Und ich wage auch keine Prophezeiung, wie ein solches Plebiszit hierzulande ausgehen würde. Die Stimmung ist angeheizt. Und die Stimmen sind laut, die sich bereit erklären, gerade die „westlichen Werte“ und Freiheiten zu beschneiden, auf die sie sich ununterbrochen berufen. „Keine Toleranz der Intoleranz“ ist so ein Satz, der erst mal gut klingt, beim zweiten Hören aber stutzig machen muss. Was ist eine Toleranz wert, die gleich wieder zurückgenommen wird, wenn ein anderer nicht tolerant sein will? Was ist unter Freiheit noch zu verstehen, wenn sogar ein derart zentrales und mühsamst erkämpftes Grundrecht wie die Religionsfreiheit zur Disposition gestellt wird?

Meine Erfahrung ist allerdings, dass solche Rückfragen und Argumente wenig ausrichten. Zu groß ist die – ja was eigentlich? – Wut? Eher vermute ich hinter diesen lauten Stimmen eine große Angst. Die Angst, dass Vertrautes verloren geht. Die Angst, den Überblick zu verlieren. Die Angst, dass die eigene Identität zunehmend verschwimmt. Eine andere Angst versteckt sich hinter lauter werdenden Stimmen, die sich unter dem Motto „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ derzeit Luft machen. Auch hier sind die Wortführer durchaus gebildet und kommen eher aus dem liberal-progressiven Milieu. Und was wird man wohl noch mal sagen dürfen? Na zum Beispiel, dass Zugewanderte sich nicht bilden und nicht Deutsch lernen wollen, dass sie weder integrationswillig noch integrationsfähig sind, dass sie es nicht weiter als bis zum Gemüsehändler bringen usw. usw. Lauter hanebüchene Verallgemeinerungen, die eigentlich nur Kopfschütteln ernten dürften. Aber erschreckend viele Menschen stimmen zu: „Das musste endlich mal gesagt werden“. Als hätten nicht schon unzählig viele andere auf Integrationsprobleme aufmerksam gemacht.

Aber darum geht es in dieser lauten Debatte gar nicht mehr. Was hier wirklich gesagt wird, ist: „Wir wollen die nicht, die uns im globalisierten Wettlauf aufhalten.“ Nicht mehr „Ausländer raus“ ist das Motto sondern „Arme raus“, „Modernisierungsverlierer raus“. Wozu diese lauten Stimmen ganz unverhohlen aufrufen, ist die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Als müsse man den Ballast sozial benachteiligter Schichten endlich loswerden, um nicht selber unterzugehen.

Nicht die alte nationalistische Fremdenangst wird hier geschürt, sondern die Angst, mit der atemberaubenden Geschwindigkeit moderner Gesellschaften nicht mehr mitzukommen. Die Angst, selber auf der Strecke zu bleiben, überflüssig zu werden. Keine Frage: Diese Ängste, die sich gerade in den Mittelschichten erschreckend schnell ausbreiten, müssen wir Ernst nehmen. Aber gerade deshalb dürfen wir nicht auf die Schreihälse hören, die zur Spaltung der Gesellschaft aufrufen. Laut wie sie sind, schaffen sie es immer wieder in die Schlagzeilen. Und provozieren empörte und ebenso laute Reaktionen. Dann folgt in der Regel ein tagelanger und geräuschvoller Schlagabtausch. In all diesem medialen Lärm bemerken wir oft gar nicht mehr, wie trost- und hoffnungslos die Botschaft der Desintegrationspropheten im Grunde ist. Was sagen sie denn? Sie sagen: Deine Identität kannst du nur bewahren, indem du dich von anderen abgrenzt und sie zu Fremden erklärst. Sie sagen: Das Leben ist Kampf und Konkurrenz. Wenn du gewinnen willst, müssen andere verlieren. Für alle ist kein Platz. In dieser Welt nicht, in dieser Gesellschaft nicht, in unserem Stadtteil nicht. Wenn du etwas erreichen willst, musst du an Scheiternden und Verletzten vorbei gehen. Wenn du es zu etwas bringen willst, musst du hart und unbarmherzig sein. Das ist der traurige und pessimistische Grundakkord unter so vielen lauten Tönen, die derzeit zu hören sind. Die Welt ist eine Arena, in der wir um die Wette laufen. Nur wenige können Sieger sein. Das Ich muss sich panzern, um im Kampf aller gegen aller zu überleben. „Am Ende zähl ich“.

Wer diese traurige Botschaft nicht zu seiner Lebenskantilene machen will, muss auf andere Töne hören. Die leiseren und eher bedächtigen Töne. Solche Töne sind schwerer auszumachen. Die traurige Botschaft lässt sich hinausposaunen, die frohe Botschaft dagegen kann nicht mit Fanfaren verkündet werden, weil Versöhnen unendlich viel schwerer ist als Spalten. Weil Heilen länger dauert als Verletzen. Weil miteinander reden schwieriger ist, als übereinander reden. Weil Vertrauen nur langsam wachsen kann. Weil Hoffnung eine zarte Pflanze ist, die gepflegt sein will. Weil der Glaube mit dem Zweifel ringt und die Liebe nicht nur duldet, sondern auch erdulden muss. Diese leiseren und bedächtigen Töne habe ich hier in Niedergirmes immer wieder vernommen. Sie erzählen davon, dass ein anderes Leben möglich ist. Dass wir einander nicht Wölfe sein müssen, sondern Menschen sein dürfen. Fehlbare Menschen, die einander brauchen und sich nach Anerkennung und Vertrauen sehnen. Mutige Menschen, die andere nicht im Stich lassen und dafür Sorge tragen, dass keine und keiner verloren geht. Verwundbare Menschen, die sich vom Glück und vom Schmerz der Anderen anrühren lassen und sich nicht im eigenen Leben einmauern.

„Am Ende zählen WIR“.  Das ist die leise Melodie, die ich hier bei Ihnen höre. Die Welt ist keine Arena, wo es nur Sieger oder Verlierer geben kann, sondern die Schöpfung, die Gott gut genannt hat, sehr gut sogar, wo Menschen und Kreaturen miteinander leben und satt werden können, alle, auch lebenssatt. Nein, ich will Sie und Ihre Arbeit nicht idealisieren. Ich höre hier auch keinen harmonischen Schlager. Da sind viele Stimmen, die nicht unbedingt alle harmonieren. Es gibt auch Dissonanzen. Das höre ich durchaus. Missklänge und Missverständnisse sind unvermeidbar, wo unterschiedliche Menschen zusammen zu leben und zu arbeiten versuchen. Dass aber hier in Niedergirmes trotz alledem versucht wird, miteinander zu singen, statt Kamplieder anzustimmen, gerade das habe ich immer als aufbauend und anrührend erfahren.

Und ich höre in Ihrem Girmeser Lied auch noch ein anderes Lied anklingen, das große Lied vom guten Ausgang allen Lebens, das z.B. der Prophet Jesaja gesungen hat: Die Augen der Blinden werden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Die Lahmen werden springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Land. Die Völker werden auf dem Berg Zion sein, nicht mehr in der dunklen Geducktheit ihrer Täler. Alle werden essen und alle werden trinken, ein fettes Mahl und starken Wein. Das ist der frohe und optimistische Grundakkord, der die ganze Bibel durchzieht und durchklingt, und in den auch der Seher Johannes am Ende der Bibel einstimmt: Ich sehe einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sehe eine heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgekommen ... Ihre Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine Nacht sein... Und Gott wird abwischen alle Tränen ... (Offb. 21, 1.2.25.4)

Diese frohe Botschaft schafft es nicht in die aktuellen Schlagzeilen. Sei´s drum. Wichtiger ist auch, dass sie es in die Herzen der Menschen schafft, damit sie lebendig, hoffnungsvoll, mutig und widerständig werden, und sich von den Unheilspropheten nicht erschrecken und verführen lassen. Wichtiger ist, dass wir selbst auf diese Töne hören und das Lied vom neuen Himmel und der erneuerten Erde zu singen versuchen, und sei´s auch nur zu zweit oder zu dritt. Nein, wir sind nicht der himmlische Chor und werden wohl auch keiner. Und wir werden das Reich Gottes auch nicht errichten – nicht mal in Niedergirmes. Aber es ist unsere Aufgabe als Kirche Jesu Christi, ein Gleichnis dafür zu geben. Wie unvollkommen auch immer muss doch durch uns etwas von der frohen und unerhörten Botschaft der Bibel spürbar werden: Dass sich Gottes verschwenderische Liebe durchsetzen wird. Dass Himmel und Erde und wir selbst verwandelt werden. Dass die Mächte und Gewalten dieser Welt nicht das letzte Wort haben. Dass die Opfer ins Recht gesetzt werden. Es ist unsere Aufgabe, irdische Gleichnisse zu schaffen für jene himmlische Stadt, deren Tore in alle Himmelsrichtungen offen sind, wo unterschiedliche Menschen in Frieden zusammenleben und Gott mitten unter ihnen, um alle Tränen abzuwischen. In Niedergirmes meine ich so ein Gleichnis zu erkennen. Hier höre ich etwas von jener himmlischen Melodie. Das ermutigt mich.

Ich weiß: So war das nicht gedacht mit der Einladung. Ich sollte doch Sie ermutigen. Das konnte ich aber nur versuchen, indem ich Ihnen eine Viertelstunde lang einen Spiegel vorgehalten habe. Und? Erkennen Sie sich darin wieder? Ja: Sie sind es, die uns und anderen Mut machen. Und dafür danke ich Ihnen.

 

 

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